Das Erbe des Kolonialismus – wie alte Denkmuster in der Entwicklungszusammenarbeit bis heute nachwirken

Von |2023-04-13T18:51:16+00:00Juni 1, 2020|Stiftung|

Der Kolonialismus in Afrika wirkt bis heute in vielen Köpfen nach. Auch die Entwicklungszusammenarbeit ist nicht immer frei davon – aber es gibt neue Ansätze.

Auf den Spuren der kolonialen Vergangenheit

In den meisten Ländern der Welt bezieht sich der schulische Geschichtsunterricht eng auf den eigenen Erfahrungsraum. So wundert es nicht, dass der Sozialwissenschaftler Rainer Gries feststellt, dass die Geschichte Afrikas für die meisten Europäer ab dem 16. Jahrhundert beginnt. Dies war die Zeit, in der portugiesische Seefahrer erste Handelsstützpunkte an den Küsten des Kontinents errichteten. Aus dem genannten Grund ist dies nicht zwingend ein Ausdruck von Ignoranz. Im Umgang der Menschen beider Kontinente aber können hieraus hochproblematische Folgen entstehen. Gries spricht hierbei von einem „kolonialen Blick“, der im Afrika-Bild in Europa bis heute nachwirke. Bevor dieser Befund näher betrachtet wird, lohnt sich zunächst ein Blick zurück.

Für die Akteure des Kolonialismus war es selbstverständlich, die zivilisatorische Entwicklung Europas als weltgeschichtliches Ideal zu betrachten. Mit einem Selbstbild rassischer Überlegenheit wurden vermeintlich kulturlosen Afrikanern europäische Normen und Sitten vermittelt. Auch wenn dies oft nur ein Vorwand für die Durchsetzung ökonomischer und politischer Interessen gewesen sein mag, entsprach dieses Denken dem Zeitgeist. Das Zeitalter des Kolonialismus, also die umfassende europäische Kontrolle über fast ganz Afrika, dauerte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis die 1960er Jahre an.

Zwei Daten haben für hierfür eine gewisse Symbolik erhalten. Für einen vorläufigen Höhepunkt europäischer Macht in Afrika steht das Jahr 1886. Auf der Berliner Kongokonferenz teilten die europäischen Mächte Afrika nach Interessensphären auf. Das Jahr 1960 steht wiederum für einen Meilenstein der Entkolonialisierung. Im „Afrika-Jahr“ erlangten 17 Staaten ihre Unabhängigkeit. Die Gründe hierfür lagen nicht zuletzt in der nachhaltigen Schwächung Europas in Folge des Zweiten Weltkriegs. Aber auch die zunehmende Unpopularität, die der Kolonialismus in der Weltöffentlichkeit erlangte, verschaffte den Unabhängigkeitsbewegungen Auftrieb.

Geplatzte Träume – der schwere Weg der Unabhängigkeit

Der damaligen Euphorie der Unabhängigkeitsfeiern folgte vielerorts die Ernüchterung. Innere Unruhen sowie wirtschaftliche und politische Abhängigkeit sind nach wie vor Probleme, mit denen viele afrikanische Staaten in Verbindung gebracht werden. Woran liegt das? Sind das Nachwirkungen des Kolonialismus?

Die möglichen Gründe hierfür sind vielfältig. Je nach Perspektive werden die Folgen der Kolonialzeit, neue Formen kolonialistischer Einflussnahme aber auch Misswirtschaft afrikanischer Staaten herangezogen. So stellt der Historiker Franz Schubert fest, dass aufgrund kolonialer Grenzziehungen hinter den Nationalstaaten häufig keine Nationen stünden. Stattdessen gebe es in den ehemaligen Kolonialgebieten eine Vielzahl kultureller Identitäten. Hierfür gibt auf dem Kontinent eine Reihe von eindrucksvollen Beispielen. Im Senegal, ehemals Teil von Französisch-Westafrika, werden zwanzig Volksgruppen gezählt. In Kenia, das zum größten Teil das Gebiet des ehemaligen Britisch-Ostafrika ausmacht, sind es sogar doppelt so viele. In beiden Fällen gilt als Amtssprache die der vormaligen Kolonialmächte. Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch die vielen einheimischen Muttersprachen praktiziert werden. Für Schubert führen diese Unterschiede selbst in Demokratien immer wieder dazu, dass Gruppen versuchen, sich gegenseitig zu dominieren. Die Etablierung stabiler demokratischer Verhältnisse sei besonders in der Zeit des Kalten Krieges zusätzlich untergraben worden. Westliche Staaten hätten abhängig von ihrer Interessenlage auch terroristische Gruppen unterstützt.

Ein Vertreter der These, dass zwischen Europa und anderen Erdteilen immer noch kolonialähnliche Beziehungen vorherrschen, ist der Spiegel-Journalist Nils Kalwitter. Er kritisiert vor allem Europas wirtschaftliche Beziehungen: „Kein anderer Kontinent konsumiert derart auf Kosten anderer Länder wie die Europäische Union.“ Nur ein Beispiel sei hierfür das sogenannte Landgrabbing, der Landkauf durch Großkonzerne, der in Afrika zur Verdrängung der heimischen Landwirtschaft führe.

In eine andere Richtung argumentiert der ehemalige Diplomat Volker Seitz. In seinem Buch „Afrika wird arm regiert“ stellt er fest, dass viele Afrikaner heute noch ärmer seien als zu Beginn der Unabhängigkeit vom Kolonialismus. Als Hauptproblem sieht er, dass afrikanische Eliten die Mehrheit der Bevölkerung ausbeuteten oder sich verschiedene Volksgruppen bekämpften. Die positive Entwicklung von Ländern wie Benin, Botswana oder Ruanda zeige, dass nicht länger die Auswirkungen der Kolonialzeit oder Europa allein verantwortlich gemacht werden könne.

Diese lediglich beispielhafte Zusammenstellung der verschiedenen Auffassungen über die Problemlage Afrikas zeigt bereits, dass es in dieser Frage keine eindeutige Wahrheit gibt. Die Art der Ursachenanalyse und die daraus folgenden Lösungsvorschläge sind stark von den Blickwinkeln abhängig.

Moderne Entwicklungszusammenarbeit – eine Frage der Perspektive?

Was bedeutet dieser Befund nun für die moderne Entwicklungszusammenarbeit? An dieser Stelle widmen wir uns erneut der eingangs beschriebenen Aussage von Rainer Gries, für den in Europa ein fortwährend koloniales und paternalistisches Bild über Afrika herrscht. Dies macht er vor allem an zwei für ihn charakteristischen Extremen der öffentlichen Debatte fest: Afrika als Krisenkontinent, der nicht für sich sorgen könne, oder als Chancenkontinent aufgrund seines Rohstoffreichtums. Letzteres entlarve oft wirtschaftliche Interessen und verhindere ebenfalls, Afrikaner auf Augenhöhe wahrzunehmen. Der einseitige Fokus auf die Migrationsdebatte wirke derzeit als weiteres Hindernis für ein differenziertes Afrika-Bild.

Auch bei den zahlreichen deutschen Initiativen des Bundesministeriums für Entwicklung und Zusammenarbeit sieht er gewisse ideologische Mängel. Sie zielten meist darauf ab, internationale Konzerne als Investoren zu gewinnen und zugleich „reformorientierte“ afrikanische Partner, die sich offen für deren Investitionspläne zeigten. Diese Form der Entwicklungspolitik scheitere jedoch seit Jahrzehnten. Problematisch sei vor allem, dass auf internationaler Ebene mehr über als mit Afrika geredet werde. Als Beispiel, bei dem Afrika einmal mehr die Rolle des Zuhörers eingenommen habe, nennt er den G20-Gipfel. Auf diesem war die Entwicklung Afrikas ein Schwerpunktthema. Als afrikanischer Staat war jedoch lediglich Südafrika vertreten.

Einen Schritt weiter geht Aram Zai, Heisenberg-Professor der Deutschen Forschungsgemeinschaft für Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel. Er stellt das Konstrukt „Entwicklung“ generell in Frage. Nach seiner Auffassung sei es stark „eurozentrisch“. Ausgehend von den sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsstufen der Länder Europas und Nordamerikas teile es andere Länder in „entwickelt“ und „unterentwickelt“ ein. Hier zeige sich eine deutliche koloniale Kontinuität von der Zivilisierung der Unzivilisierten hin zur Entwicklung der Unterentwickelten. Davon ausgehend werde diagnostiziert, dass diese Länder nach dem westlichen Vorbild moderner, produktiver, säkularer und demokratischer werden müssten. Allerdings sieht Zai inzwischen auch einige Verbesserungen, die aber noch nicht voll von alten Denkmustern befreit seien. Als Beispiel nennt der das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung. Hier sei vor allem der wirtschaftliche Stand der Nordländer umgekehrt etwas Negatives und zu Vermeidendes, aufgrund seiner ökologischen und sozialen Verwerfungen. Trotzdem komme in dieser Herangehensweise die Lösungskompetenz meist wieder nur aus dem Norden selbst und sei von dessen Erfahrungswelt geprägt.

Für Kritiker einer eurozentrischen Perspektive auf die Entwicklungszusammenarbeit wie Gries und Zai liegt also im Grundsatz ein mangelndes Verständnis für die Realität der afrikanischen Bevölkerung vor. Daraus entstünden Hilfsangebote, die deren Lebenswirklichkeit nicht gerecht und im schlimmsten Fall gegen sie wirken würden. Dass europäische Hilfe für Afrika im Umkehrschluss vergeblich oder generell fehl am Platz sei, wäre für beide Autoren dennoch nicht gerechtfertigt. Wie könnte man also mit offener Haltung zu besseren Konzepten kommen, die den Problemen und Potenzialen in Afrika besser gerecht werden?

Update unseres Afrika-Bildes

Eine Forderung, die eine differenzierte Perspektive auf Afrika und seine Probleme in die Praxis der Entwicklungszusammenarbeit überführen will, stammt von der Vereinigung „Bonner Aufruf“. Zu dieser gehört auch der zitierte Ex-Diplomat Volker Seitz. Die Unterzeichner fordern: „Entwicklung in Afrika kann und darf nur von Afrikanern gemacht werden.“ Hierfür müsse das Prinzip von Geber- und Nehmerländern durchbrochen werden. In der Praxis bedeutet dies, dass auf Staatenebene eine wirtschaftliche Zusammenarbeit auf Grundlage beiderseitiger Interessen erfolgt. Die Entwicklungszusammenarbeit im engeren Sinne sei dagegen viel stärker auf nichtstaatliche Akteure auszuweiten, die sich selbst organisieren und verwalten. Auch wenn die Argumente des Bonner Aufrufs gut nachvollziehbar sind, ist die Eindeutigkeit der Analyse sicherlich nicht unproblematisch. Was als differenzierte, realistische Perspektive auf Afrika beginnt, kann schnell zu neuen Verengungen führen.

Dass die Nachwirkungen des Kolonialismus endgültig überwunden werden müssen und die Perspektive auf Afrika grundsätzlich zu hinterfragen ist, scheint mittlerweile auch auf politischer Ebene angekommen zu sein. Das aktuellste Beispiel hierfür ist der „Marshallplan mit Afrika“ aus dem Bundesministerium für Entwicklung und Zusammenarbeit. Auch wenn in ihm die von Gries kritisierte einseitige Sichtweise auf Afrika als „Chancenkontinent“ dominiert, ist das Konzept auf theoretischer Ebene ein gewaltiger Schritt weg vom klassischen Geber- und Nehmerverhältnis. Nicht zuletzt orientieren sich die Maßnahmen unter anderem an den Entwicklungszielen der Agenda 2063, die die Afrikanische Union im Jahr 2013 beschlossen hat. Das aktuell größte Manko des Marshallplans mit Afrika dürfte allerdings seine mangelnde Unterstützung durch die Bundesregierung selbst und die Europäische Union sein.

Für den langfristigen Prozess der Weiterentwicklung unseres Denkens über Afrika, der zum besseren Verständnis und der effektiveren Zusammenarbeit mit Afrika führen könnte, bietet Rainer Gries einen einfachen aber bislang wenig beachteten Grundsatz: Zur Berichterstattung über das Leben in Afrika gehören afrikanische Stimmen. Laut Gries müssten deshalb zum einen mehr afrikanische Journalisten gehört werden. Auch an Schulen und Universitäten sollten Texte afrikanischer Autoren gelesen werden, um so differenzierter von der Lebenswelt des Kontinents zu erfahren. Zumindest wäre auf diese Weise gewährleistet, dass in den Schulbüchern der Zukunft das Afrika der Vergangenheit nicht auf Kolonialgebiete reduziert wird und das Afrika der Gegenwart ein vielfältigeres Bild erhält als das eines Katastrophenkontinents.

Quellen: Volker Seitz: Afrika wird arm regiert; spiegel-online; APUZ; zeitgeschichte-online; Wikipedia; bonner-aufruf; bmz.

Andreas Kalefe

Andreas Kalefe studiert Geschichte unterstützt das Stay-Team von September bis Dezember 2019 als Praktikant im Bereich Kommunikation.

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